• Stefan Herheim © Peter Mayr

 

Liebes Publikum,

 

im Namen aller Mitarbeiter*innen und Partner*innen des MusikTheaters an der Wien bedanke ich mich für Ihre Neugierde und Ihren Zuspruch in der vergangenen Saison. Wir freuen uns sehr, dass unsere Ausweichspielstätte im MuseumsQuartier zu einem lebendigen Ort des Musiktheaters und der Begegnung geworden ist. Umso herzlicher heißen wir Sie zur Saison 23/24 willkommen, in der wir unsere Programmschwerpunkte weiter vertiefen und eine Vielzahl an neu zu entdeckenden Werken in der Halle E, in der Kammeroper und heuer auch einmal im REAKTOR präsentieren.

 

Bei aller Vorfreude will ich nicht verhehlen, wie sehr uns auch das Spiel auf den Brettern, die die Welt bedeuten, vor große Herausforderungen stellt. Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stockt nicht nur der gemeinsam zu führende Kampf gegen die globale Klimakatastrophe, sondern entstehen auch jenseits der Schlachtfelder Fronten, die sich zunehmend verhärten. In einer Gesellschaft, in der es immer schwieriger wird, sich auf Werte und die Anerkennung von Fakten zu berufen, entgleitet uns die Fähigkeit zu gemeinsamen Annäherungen und Strategien, zu fairen Kompromissen und Vereinbarungen. Das Theaterspiel gründet sich aber gerade auf der gemeinsamen Anerkennung eines Als-ob, auf der Verabredung, mit den Mitteln des Spiels zum Kern der menschlichen Existenz vorzudringen.

 

„Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“, schrieb Friedrich Nietzsche, und wir spielen weiter, um der Haltlosigkeit der Welt mehr als bloße Unterhaltung entgegenzusetzen und ihrer besinnungslosen Flucht nach vorne Einhalt zu gebieten. Gerade im kunstvollen Spiel mit den Erkenntnissen vergangener Epochen finden wir mögliche Antworten auf Fragen der Gegenwart. Befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein, lehrt uns die Kunst zuzuhören, differenziert wahrzunehmen, besonnen zu urteilen und gemeinsam Zukunft zu gestalten.

 

In vielerlei Hinsicht hinterfragen die Werke dieser Spielzeit die Ideale der Aufklärung, deren Glaube an eine bessere Welt durch die Vorherrschaft der menschlichen Vernunft sich nicht erst im 21. Jahrhundert als Illusion erwiesen hat. Nicht zufällig stehen am Anfang der Saison gleich zwei Werke, die das Martyrium der frühchristlichen Gemeinde zum Thema haben. So fremd uns heute der archaische Fanatismus in Gaetano Donizettis Les Martyrs und die fromme Tugendhaftigkeit in Georg Friedrich Händels Theodora erscheinen; sie führen uns drastisch vor Augen, dass die Werte einer offenen Gesellschaft nicht selbstverständlich, sondern teuer erstritten worden sind und immer aufs Neue verteidigt werden müssen.

 

Niemand hat die „Dialektik der Aufklärung“ früher erkannt als Voltaire, dessen Roman „Candide“ schon Mitte des 18. Jahrhunderts jedwede Ideologie und Maxime zur Erklärung der Welt der Lächerlichkeit preisgab. Hiervon ließ sich Leonard Bernstein 200 Jahre später zu einer turbulenten Operette inspirieren, die auch musikalisch auf eine Odyssee durch Zeit und Raum führt und nach dem erneuten Schließen des Eisernen Vorhangs aktueller denn je erscheint.

 

Dasselbe gilt für das „Dramma eroicomico“ Kublai Khan, wohinter sich eine Satire auf den russischen Zarenhof des 18. Jahrhunderts verbirgt. Als der russische Herrscher sich unerwartet mit dem habsburgischen Kaiser verbündete, erschien eine kulturpolitische Verballhornung alles andere als opportun, und so musste die vom kaiserlichen Hofkomponisten Antonio Salieri fertiggestellte Oper kurz vor ihrer geplanten Uraufführung im Jahr 1787 in der Versenkung verschwinden. Diese holen
wir nun nach, und zwar als zweite szenische Produktion in unserer Reihe „Wiener Klassik“, die mit einem Jugendwerk des späteren Rivalen und vermeintlichen Widersachers Salieris beginnt. In La finta giardiniera setzte Mozart zum ersten Mal die Liebe auf die Schulbank der Aufklärung.

 

Während in Kublai Khan ein Despot zum Narren gehalten wird, demonstriert Shakespeare in seinem Drama „Richard III.“, wie leicht ein wankelmütiger Staat sich in eine Diktatur verwandeln lässt. Die aus der Ukraine stammende Regisseurin Kateryna Sokolova gestaltet diese unheimliche Analyse zu einem brandaktuellen Musiktheaterabend mit Musik von Henry Purcell.

 

Viele dieser Stücke haben paarweise einen engen Bezug zueinander und widersprechen, ergänzen und hinterfragen einander ethisch und ästhetisch. Charles Gounods lyrisches Drama Roméo et Juliette und Philip Venables’ „amplifizierte Oper“ Denis & Katya zeigen zwei unverwüstliche Liebespaare aus Blickwinkeln, die unterschiedlicher nicht sein können. Sowohl in Jaromír Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer als auch in Astor Piazzollas „Tango Operita“ María de Buenos Aires – zwei volksnahen Stücken aus völlig unterschiedlichen Kultursphären des 20. Jahrhunderts – werden die Abgründe verbotener Sehnsüchte und die Kehrseite unerfüllter Lebensträume ausgelotet.

 

Es ist mir eine große Freude, Tobias Kratzer, Marie-Eve Signeyrole und Nikolaus Habjan zurück am MusikTheater an der Wien begrüßen zu dürfen. Diese renommierte Regie-Riege wird u.a. um Cezary Tomaszewski, Lydia Steier, Martin G. Berger und viele junge Kolleg*innen erweitert, die den künstlerischen Anspruch und das Profil unseres Hauses mitprägen. Kontinuität schafft auch unsere enge und beglückende Partnerschaft mit dem vor der Auflösung geretteten ORF Radio-Symphonieorchester Wien, mit den Wiener Symphonikern und dem stets begeisternden Arnold Schoenberg Chor. Auch die Zusammenarbeit mit stilbildenden Ensembles für Alte und Neue Musik wie dem La Folia Barockorchester oder dem Klangforum Wien wird fortgesetzt.

 

Dank unserer Sponsoren können wir die Reihe Familienoper fortführen und Oliver Knussens Wo die wilden Kerle wohnen nach einem der beliebtesten Kinderbücher überhaupt erstmals in Österreich zeigen. Mit Zad Moultakas Hamed und Sherifa gibt es die zweite Oper für „jung & alle“ in der Kammeroper – zwei spannende Geschichten, die Lebensfreude in zukunftsfähiges Musiktheater verwandeln.

 

Die Bandbreite Händels wird nicht nur im spätbarocken Oratorium Theodora, das ich selbst inszenieren darf, evident, sondern vor allem durch den Vergleich mit seinen früheren Kompositionen. Il trionfo del tempo e del disingannoAci, Galatea e PolifemoFlavio sind nur drei der zu konzertanten oder halbszenischen Aufführungen gelangenden Werke, die Freund*innen alter, klassischer und weit über die Romantik hinausreichender Musik eindringliche, hochkarätig besetzte Abende bereiten werden.

 

Last, but not least feiern wir den 150. Geburtstag des Universalkünstlers Arnold Schönberg, der als Begründer der Zweiten Wiener Schule den Ruf dieser Stadt als Zentrum der Musik völlig neu definierte und festigte. Mit einem Abend für Schönberg laden Regisseur Johannes Erath und Dirigent Michael Boder in die einmaligen Räume des REAKTOR im siebzehnten Bezirk zu einem unvergesslichen Freitag, der Dreizehnte ein.

 

Unsere Projekte sind alle getragen von der Hoffnung, Menschen Zugang zu etwas Eigentlichem zu verschaffen und einen Ausgleich von Gefühl und Ratio dort zu ermöglichen, wo berechnende Vernunft, Technik und Ökonomie zunehmend das Gefühl einer existenziellen Leere hinterlassen. Im Musiktheater geht es nicht um den vorgeblich hehren Sinn, der zu Waffen ruft, sondern um die Sinnlichkeit und den wunderbaren Unsinn, der uns im Weinen und Lachen vereint.

 

In diesem Sinne freue ich mich, Sie bald wieder im MusikTheater an der Wien begrüßen zu dürfen!

 

Herzlichst

Ihr Stefan Herheim

Intendant MusikTheater an der Wien